Welcome to Kirgistan! - all i need. Österreich
Welcome to Kirgistan! Teil 1. Bishkek-City.
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Ich hatte es ja vollkommen vergessen, verdrängt wie Wehenschmerzen nach einer Geburt, wie heiß und staubig und fremd hier alles ist. Hier, in Bishkek City, wo ich in den nächsten paar Wochen erneut ein- und untertauchen werde – in kirgisische Seelen und hiesige Realitäten, um für meinen neuen Roman zu recherchieren. Da es darin ums Verlieren und Verlorensein geht, ein wenig wie im Gedicht „One art“ von Elizabeth Bishop, könnte der Ort perfekter nicht sein. Denn verloren fühlte und fühle ich mich hier von Anfang an, hinten und vorne und oben und unten, umringt vom Kyrillischen Alphabet und den nationalen Gepflogenheiten. Und so ist der eingangs erwähnte Vergleich mit der Geburt gar nicht übertrieben: Auch ich werde hier quasi wiedergeboren und neu erschaffen und fange wie ein kleines Baby ganz neu zu hören und staunen und rezipieren an.

Jeder Schritt, jeder Blick, jeder Atemzug ist ein Erlebnis: die fehlenden Kanaldeckel im Boden, die Kakteen-, Kirschen- und Kugelschreiber-Verkäuferinnen am Straßenrand, die Mütterchen mit ihren mitgebrachten Personenwagen, auf denen man sich auf offener Straße für 5 Som (1 EUR = 76 Som) wiegen lassen kann, die fehlenden Ampeln beim fünfspurigen Straßenüberqueren, das Dauergehupe und Hahnengeschrei, das unvermeidliche Wasserschleppen, die Plumpsklos, die verstaubten Museen, die unterirdischen Einkaufs-Mekkas, die abgehackten Pferdeköpfe und weltbesten Issyk-Kul-Marillen, die umgedrehten Lenin-Statuen und wenig kommunikativen Menschen auf der Straße (was keinesfalls der Unfreundlichkeit sondern dem postsowjetischen Charme geschuldet ist) – und meine damit verbundene permanente Überforderung bei den banalsten Dingen wie Wasser-Kaufen oder Stromrechnung-Zahlen. So ist das in der Fremde, ich weiß. Und doch, so „lost in translation“ wie hier, fühlte und fühle ich mich sonst nirgendwo.

Aber das ist ja auch der Sinn der Sache und ganz sicher kein Fehler: sich selbst ein bisschen zu (über)fordern, den eigenen Horizont zu erweitern und sich ins Abenteuer zu stürzen, unvoreingenommen und mitten hinein. Das macht offen und neugierig, schult die Beobachtung und das Herz und verändert einen ganz automatisch innerlich wie äußerlich. Ein Phänomen, das derzeit auch der chinesische Künstler Ai Weiwei im (Luftlinie) 4.463 Kilometer entfernten 21er Haus in Wien verarbeitet und unter dem Motto „Translocation – Transformation“ zu einer spirituellen Welt- und Seelenreise de luxe einlädt. Doch die Welt ist einfach zu groß, spannend und aufregend, um nur daheim zu bleiben. Und was Kirgistan betrifft, so lassen sich gewiss gleich mehrere Romane schreiben über dieses arme, wilde, schräge, laute, mutige, wunderschöne, widersprüchlige und wahnsinnig aufregende Land — in dem die Tradition am Aberglauben kratzt, Nomaden noch in Jurten hausen, einen die schneebedeckten Gipfel des Tien Schan aus den Socken hauen, Schafskopfaugen zum Frühstück serviert und im 21. Jahrhundert noch Frauen geraubt werden.

Die Stadt selbst hat sich seit meinem letzten Besuch 2015 total verändert: War ich damals noch eine der wenigen „Touris“ hier, so tummeln sich heute unglaubliche Scharen an – vor allem jungen Europäern – in der Stadt, die Hotels schießen wie die Melonen im Fergana-Becken aus dem Boden, die Supermärkte stocken deutsche und internationale Waren auf und die Bishkeker Jugend zeigt sich deutlich konsum- und markenorientierter, will unbedingt modern sein, alles haben, was Westen schreit und strebt genau nach jenem Materialismus, den ich ganz bewusst im privilegierten Österreich zurückgelassen habe.

Der Fortschritt hat sich eingeschlichen. Und ist unaufhaltsam dabei. Aber ich werde nichts desto trotz auf meine Art und Weise zurück-schreiten, die Traditionen der Nomaden unter die Lupe nehmen, die Umbruchjahre nach der Sowjet-Trennung 1991 studieren und schön altmodisch vor dem Einschlafen das legendäre Manas-Epos lesen (die wichtigste Helden- und Gründungsgeschichte der Kirgisen). Ich will nicht modern sein, sondern das genaue Gegenteil: echtes kirgisisches Leben, Ursprünglichkeit, Authentizität.

Hier in Bishkek City fange ich gleich mit Kymyz und Schoro (vergorene Stutenmilch und Getreidesaft) und dem Nationalgericht Beschbarmak an und brause mit wilden Marschrutkas durch die Gegend. Doch schon bald geht’s ab aufs Land, das in vielem langsamer, wilder und echter tickt als die Metropole. Und dann reite ich auf einem Pferd durch die kirgisische Steppe wie einst Dschingis Khan und rufe Euch „Salamatsyzby“ zu. Bis dahin: schönen Sommer!

Ich bin Daniela Emminger, hauptberuflich Schriftstellerin und nebenberuflich Weltreisende. Was treibst Du im Sommer? Schick uns einen inspirierenden Urlaubsgruß. Der schönste Beitrag (in Wort und/oder Bild) wird mit einer – ebenfalls „inspiring“ – Palette all i need belohnt. Weltentdecken ist all i (we) need.

daniela.emminger@allineed.at oder office@allineed.at

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